Verwandlung

Passion
 

Impuls zu Röm 5,1-11
von Pfr’in Annette Müller

Ursprünglich stamme ich aus Waldems-Esch, das ist ein Dorf im Taunus. In der Kirche, in der ich konfirmiert wurde, gibt es ein Glasfenster hinter dem Altar. Dieses Fenster wurde von einer lokalen Künstlerin gestaltet. In der Mitte dieses gläsernen Kunstwerkes sieht man ein Kreuz, an dem der Gekreuzigte eine Hand erhoben hat, so anmutig wie ein Tänzer. Von links nach rechts schreiten kleine Menschen an diesem Kreuz vorbei. Links des Kreuzes sind die Menschen Grau, von oben bis unten. Während sie unter dem Kreuz entlanggehen, werden sie von Strahlen erfasst, die vom Kreuz ausgehen und von dem anmutig segnenden Christus. Diese Strahlen bewirken eine Verwandlung: Die Menschen nehmen Farbe an, sie werden bunt! Als rote, gelbe, farbenfrohe Personen setzen sie ihren Weg fort. Jeder, der dieses Bild sieht, versteht die Botschaft: Wer sich in diesen Prozess hineinbegibt, wird verwandelt, wird beglückt, wird gesegnet vom Gekreuzigten. Wer sich unter das Kreuz stellt, dessen Leben wird transformiert, es wird reich an Erfahrung.

 „Gott erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.“ (Röm 5,8) Es ist möglicherweise die zentrale Botschaft des Christentums: Dieser Tod am Kreuz heilt etwas in uns. Das Kreuz versöhnt, es tröstet. Davon singen auch die Lieder der Passionszeit. Aus dem Glauben an den Gekreuzigten erwachsen Hoffnung und Geduld, wie Paulus es beschreibt im Predigttext für diesen Sonntag (Römer5,1-11). Am Kreuz kann man sich festhalten, es gibt Halt im Leben. Es stellt das Verhältnis zwischen Gott und Mensch wieder her.

Das Lukas- und das Johannesevangelium stützen die Behauptung des Apostels Paulus. Sie betonen: Dass Jesus Christus gekreuzigt wurde, war nicht ein bedauerlicher Zufall oder einfach nur ein Justizmord. Dieser Tod hatte und hat eine höhere Bedeutung. Auch sie behaupten: Im Kreuz liegt die Kraft, Menschen und Umstände tiefgreifend zu verwandeln.

Am Tag von Jesu Hinrichtung werden noch weitere Männer gekreuzigt. Der Evangelist Lukas berichtet, wie sich die Perspektive eines andere Gekreuzigten wandelt durch den Kontakt mit Jesus Christus. Er erkennt, dass Jesus unschuldig dieses Schicksal erleiden muss. Aber Jesus tröstet den Verbrecher. „Noch heute wirst du mit mir im Paradies sein!“ verspricht er ihm und verwandelt dessen Todesangst in Hoffnung. Jesus selbst gibt im Moment seines Todes die Verantwortung für alles Weitere nach oben ab: „Vater, ich befehle meinen Geist in deine Hände!“ Seine eigene Todesangst ist verwandelt worden in ein tiefes Vertrauen in Gott. Die verwandelnde Kraft des Kreuzes wird aber auch im Umfeld der Zuschauenden deutlich: Ein römischer Hauptmann, der Zeuge des Geschehens wird, begreift plötzlich die Tiefendimension des Geschehens: „Fürwahr, dieser Mensch ist ein Gerechter gewesen.“

 „Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.“ Das ist ein Glaubenssatz, aus christlicher Innenperspektive formuliert. Das Blut dieses Unschuldigen macht aus Sünderinnen und Sündern Menschen, die vor Gott bestehen können, behauptet Paulus. Sie sind gerechtfertigt. Das Blut Christi versöhnt Menschen mit Gott. Jesus Christus ist für uns alle gestorben, für mich und für dich, für die Menschen damals und für die Menschen heute. Das ist der Kern der paulinischen Theologie. Was das aber bedeutet, muss immer wieder neu durchdacht und erschlossen werden. Jede Generation muss sich neu damit auseinandersetzen. Jeder Christ, jede Christin wird ihren eigenen Weg finden, diese Sätze auf sich wirken zu lassen und sich ihre Bedeutung anzueignen.

Menschen sind Gottes Ebenbilder, voller Talente. Aber sie sind eben auch Sünderinnen und Sünder, das zumindest behauptet die Bibel. Das bedeutet, dass jeder und jede von uns teilhat an Mächten, die nicht liebevoll und großartig sind, sondern zerstörerisch und furchtbar. Diese Kräfte sind teilweise so grauenhaft, dass man eigentlich nicht weiterleben kann, sobald man sich ihrer bewusst wird.

In diesen Tagen gab es in Griechenland ein fürchterliches Zugunglück. Ein Personenzug und ein Güterzug rasten mit hoher Geschwindigkeit aufeinander zu und knallten frontal aufeinander. Im Moment sieht es so aus, als ob menschliches Versagen Ausschlag gebend war. Wie soll dieser Mitarbeiter weiter leben im Bewusstsein, dass etwa 50 Menschen starben in Eisenbahnwaggons auf dem Weg von Athen nach Thessaloniki? Selbst wenn der Verantwortliche eine juristische Strafe verbüßt, wird er die moralische Schwere dieser Schuld niemals selbst tragen können. Seine Tat ist unentschuldbar und kann niemals wieder gutgemacht werden. Es sei denn, jemand sagt: Ich trage deine Schuld. Ich trage dich mit deiner Schuld. Ich ertrage dich, obwohl es unerträglich ist, was du getan hast!

Im Moment denke ich oft über Sünde und Schuld nach in Bezug auf den Ukrainekrieg. Die friedensethischen Debatten haben ja ungeheuer an Fahrt aufgenommen zum Jahrestag des Einmarsches der russischen Armee in das Territorium der Ukraine. Was wäre jetzt gut und richtig zu tun? Menschen, die sich zur Friedensbewegung zählen, fordern vehement, dass endlich verhandelt wird und dass der Westen aufhört, Waffen in die Ukraine zu liefern. Sie erinnern an das Wort Christi: „Wer das Schwert ergreift, wird durch das Schwert umkommen.“ Diese Menschen nehmen die Bergpredigt ernst mit der Zumutung, dem Angreifer nicht nur die eine, sondern auch die andere Wange hinzunehmen. Verantwortungsethisch argumentierende Positionen dagegen befürworten Waffen-lieferungen. Sie sagen: „Wir unterstützen die ukrainische Armee und das ukrainische Volk in ihrem verzweifelten Willen zur Selbstverteidigung. Wir leisten Nothilfe.“ Sie betonen: „Freiheit ist auch von hohem Wert!“ Und sie sagen: „Jeder, jede darf für sich selbst entscheiden, gewaltlos zu leben. Aber es wäre zynisch, ein Land, das systematisch in Schutt und Asche gelegt wird, zu zwingen, dies ohne Gegenwehr hinzunehmen.“

Wie ist dieses Dilemma zu lösen? Das Problem ist: Wir alle stecken mitten drin in der Debatte. Keiner kann aus der Vogelperspektive auf diesen Krieg drauf schauen und die Folgen abschätzen. Und ich fürchte: Schuld werden wir alle auf uns laden. Denn wir können nur bis zum Horizont schauen und nicht über ihn hinweg. Das Liefern von Waffen wird unzähligen Menschen das Leben kosten, das Nicht-Liefern von Waffen aber mit Sicherheit ebenso. Unsere Politikerinnen und Politiker sind verstrickt in ein komplexes Gefüge von Abhängigkeiten und Interessen. Sie sind betriebsblind. Und wir sind es auch. Alle miteinander. Wir sind Sünderinnen und Sünder. Wir laden Schuld auf uns durch Handeln und durch Nichthandeln.

Im Kreuz pulsiert ein Kraft, die Menschen und Umstände zu verwandeln vermag in ihrer Tiefe, verwandeln zum Guten, zum Richtigen. Darum bete ich inständig um eine innere Umkehr der Angreifenden. Ich flehe Gott an, dass Putin und seine Gefolgsleute Buße tun und einsehen, wie schrecklich, wie zerstörerisch und wie abgrundtief böse ihr Tun ist. Selbst wenn sie Grund hätten, gekränkt zu sein durch die Ausdehnung der Nato, rechtfertigt dies noch lange nicht den Einmarsch in ein anderes souveränes Land! Ich bete für eine Verwandlung der Aggression in Einsicht: Die Grenzen anderer Nationen sind unbedingt zu achten und zu wahren! Auseinandersetzungen sind mit Mitteln der Sprache zu führen! Es darf keine Rückkehr geben in Zeiten, in denen der Stärkere den Schwächeren ihre Lebensweise aufzwingen darf! Und ich bete um unsere eigene Verwandlung hin zu einer respektvollen Sichtweise auf die Probleme und Herausforderungen unserer Zeit. Damit wir einander schätzen und stützen, egal, welche politische Haltung wir einnehmen.

Eine gesegnete Passionszeit wünsche ich !

Ihre/ Eure Annette Müller

 

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