Geduld

 

Impuls für den Sonntag Sexagesimä, von A. Müller

Sie ist eine ungestüme junge Frau, mit einem wilden Lachen. Nach der mittleren Reife geht sie von der Schule ab, um schnell Geld zu verdienen. Sie will raus von Zuhause! Sie heiratet und holt in der Abendschule das Abitur nach. Erst arbeitet sie als Heilpraktikerin hilft Kranken mit Mitteln aus der Naturheilkunde. Dann bringt sie Zwillinge zur Welt, zwei Jungs, die ihr wildes Lachen geerbt haben, das merkt man bald, und auch das abenteuerliche Funkeln ihrer Mutter in den Augen. Die Jungs werden groß, da fängt ihre Mutter an zu studieren, Medizin. Mit zähem Fleiß ackert sie sich erst durch das Physikum, dann durch die beiden Staatsexamina. Geduld ist nicht ihre Stärke. Alles muss immer flott gehen. Jahre später schreibt sie ihrer Nichte einen Brief. Darin enthalten ist ein Gedicht von Rainer Maria Rilke. Dieses Gedicht scheint irgendwie gar nicht zu der abenteuerlichen Medizinerin zu passen. Denn dort steht:

Man muss den Dingen die eigene, stille ungestörte Entwicklung lassen, die tief von innen kommt, und durch nichts gedrängt oder beschleunigt werden kann; alles ist austragen – und dann Gebären.
Reifen wie der Baum, der seine Säfte nicht drängt und getrost in den Stürmen des Frühlings steht, ohne Angst, dass dahinter kein Sommer kommen könnte. Er kommt doch! Aber er kommt nur zu den Geduldigen, die da sind, als ob die Ewigkeit vor ihnen läge, so sorglos still und weit…
Man muss Geduld haben, gegen das Ungelöste im Herzen, und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben, wie verschlossene Stuben, und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben. Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antwort hinein
.“

Geduld. Im Alter muss man Geduld lernen. Wenn alles nicht mehr so schnell geht. Wenn die Augen nachlassen und das Gehör. Wenn es schon Kraft kostet, den Alltag irgendwie zu meistern, das Einkaufen, Kochen, das Saubermachen. Das ist vielleicht ist die allerschwerste Übung: Kontrolle abgeben. Verantwortung weiterreichen oder niederlegen. Akzeptieren, dass alles nicht mehr so schnell geht. Annehmen, dass weniger möglich ist und alles langsamer geht. Geduld zu haben mit sich selbst ist schwer, und Geduld miteinander zu haben auch.

Manches lässt sich nicht beschleunigen. Manches geschieht ohne unser Zutun, wie im Gleichnis vom Wachsen der Saat: (Markus 4,26-2) Und Jesus sprach: Mit dem Reich Gottes ist es so, wie wenn ein Mensch Samen aufs Land wirft und schläft und steht auf, Nacht und Tag; und der Same geht auf und wächst – er weiß nicht wie. Von selbst bringt die Erde Frucht, zuerst den Halm, danach die Ähre, danach den vollen Weizen in der Ähre. Wenn aber die Frucht reif ist, so schickt er alsbald die Sichel hin; denn die Ernte ist da.

Ich hatte mal einen Bekannten, der hieß Raoul. Er war dreißig Jahre alt und ein Trinker. Und ich war 16 Jahre als und liebte Poesie. Ich hatte ein Album, in das ich Gedichte schrieb. Raoul hatte eine wun-derschöne Handschrift. In geschwungenen Schnörkeln schrieb er mir in mein Buch: „Du kannst das Gras nicht aus der Erde zerren.“ Was er damit meinte? Ob er das auf sich selbst bezog? Oder auf mich? Ich war als Teenager kaum zu Hause. Immer war ich unterwegs und wollte Abenteuer erleben.

Jetzt bin ich Pfarrerin und will und soll mit anderen am Reich Gottes bauen. Wie gerne würden wir eine leuchtende Gemeinde bauen! Eine Kirchengemeinde mit Ausstrahlungskraft, wie beim Noten Helfen Konzert am vergangenen Samstag, von dem in der Zeitung berichtet wurde als einem leuchtenden Beispiel. Wir reißen uns ein Bein heraus für die Gemeinde, meine haupt- und nebenamtlichen Kolleg*innen, die Ehrenamtlichen im Kirchenvorstand und viele Junge und Ältere, die mit anpacken. Wir wollen den Menschen das Evangelium nahebringen in Wort und Tat. Dazu strengen wir uns wirklich an. Und dann hören wir das: Die Saat geht von alleine auf. Ohne euer Zutun. Ohne, dass ihr euch abrackert dafür. Gott lässt die Erträge reifen!

Wenn ein neuer Gemeindebrief gedruckt ist, ist das immer ein kleines Fest. Freudig blättere ich das Heft durch, schaue mir die Fotos an und überfliege die Artikel. Diesmal bleibt mein Blick an der Statistik hängen: 35 Taufen haben wir im letzten Jahr gefeiert! Ich erinnere mich an Babies und Kleinkinder, die getauft wurden und an das wundervolle Freibadfest, bei dem Teenager im Schwimmbecken von ihren Freunden bei der Taufe gehalten wurden. Aber, ach! Daneben stehen die Sterbedaten und die Austritte. Unsere Gemeinde hat im letzten Jahr mehr als doppelt so viele Mitglieder verloren wie sie aufgenommen hat! Eine Welle der Frustration erfasst mich. Ich bin traurig und mutlos. Ist all unsere Anstrengung umsonst?

Du kannst das Gras nicht aus der Erde zerren,“ hallt es in meinem Kopf. Ein Muslim sagte einmal zu mir: „Erfolg ist keiner der Namen Gottes!“ Und: predigen wir Evangelischen nicht die Rechtfertigung allein aus Glauben? Da geht es doch gerade darum, dass Gott uns nicht aufgrund unserer Leistungen annimmt, sondern weil er das will, aus freien Stücken. Aber wie schwer fällt es, das anzunehmen: dass manches sich anders entwickelt, als wir es uns erträumen! Dass unsere Kirche schrumpft und damit auch die Mittel, Gemeindeleben zu gestalten.

Manche Prozesse sind schmerzhaft, äußerst schmerzhaft, wie bei einer traumatischen Geburt. Wie die Veröffentlichung der ForuM Studie in der vergangenen Woche. Wie ein Erdbeben hat die Erkenntnis unsere Kirche erschüttert: Es gab tausende von Fällen sexueller Gewalt unter dem Dach der Evangelischen Kirche! Meine Kolleginnen und Kollegen und ich wären vor Scham am liebsten im Boden versunken.

Ich frage mich: Warum, warum nur gedeiht das Böse neben dem Guten, das Traumatische neben dem Heilsamen auf dem Acker der kirchlichen Arbeit? Und ich frage mich: Waren wir zu geduldig, zu rücksichtsvoll gegenüber denen, die übergriffig wurden? Es ist entsetzlich zu realisieren: Da wurden zarte Pflänzchen des Vertrauens vergiftet. Da wucherten Disteln der Gewalt und vertrieben das Kleingemüse aus dem kirchlichen Garten. Da wurden Menschen beschädigt, beschämt und gekrümmt. Da wuchs nicht nur das Wort Gottes in seiner Schönheit und Kraft, sondern auch die pure Gewalt. Es ist zum Verrücktwerden. Oder zum Verzweifeln.

Sicher, Wachstum und Gedeihen liegen in des Himmels Hand. Und doch: Wir alle hier im Gottesdienst sind Gärtnerinnen und Gärtner in Gottes Garten. Wir sind Landwirtinnen und Landwirte, die den Gemeindeacker bestellen. Und nun gilt es, ordentlich Unkraut zu jäten und gewalttätige Mitarbeiter als solche zu erkennen. Ein steiniger Acker wird da zu bestellen sein. Und manchmal werden wir höchst ungeduldig sein müssen.

Wir bekennen als Kirche unsere Schuld. Wir stellen uns unserer Verantwortung. Wir klagen Gott das Leid, das in unseren Reihen geschah. Und wir hoffen inständig, dass die himmlische Allmacht das Ihre tut, damit auf ihrem Acker bald wieder das Vertrauen gedeihen darf, der Glaube und die Liebe. Und wir als kirchliche Landwirtinnen und Gärtner versprechen, das Kleine, Zarte zu schützen und das Gift zu verbannen, so wahr wir leben und es uns ernst ist. Und so möchte ich ausnahmsweise mit einem Schuldbekenntnis schließen:

«Wir bekennen unsere Geduld, wo die Zeit gedrängt hat. Wir bekennen unsere Höflichkeit, wo Hinstehen gefragt war. Wir bekennen unsere Ausflüchte, wo mit uns gerechnet wurde.

Wir bekennen, dass wir Haltung bewahrt haben, wo wir aus der Haut hätten fahren müssen

und dass wir zu verstehen suchten, wo es nichts zu verstehen gab. Wir bekennen unsere Diskretion wo wir Klartext reden und unsere guten Manieren, wo wir auf den Tisch hauen sollten.

Wir bekennen unser Schweigen, wo auf unser Schreien gewartet wird. Und dass wir unablässig bitten, wo die Veränderung in unseren Händen liegt.» Amen.

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