Palmsonntag

 

Jesus - erniedrigt und erhöht

Zum ersten Mal fahren sie zusammen auf eine Tagung, Eva und Anja. In Coventry soll der Kongress stattfinden, im Jahr 2008. Die beiden Kolleginnen machen sich auf den Weg nach England. Sie fahren mit der Bahn in diese Stadt, in der eine zerstörte Kathedrale steht. Wie in Dresden fielen auch hier im zweiten Weltkrieg Bomben. Eine hallengroße Kirche wurde in Trümmer gelegt und nicht wieder aufgebaut. Nur noch ihre Ruine ist zu besichtigen, ohne Dach. Neben den verkohlten Mauern der alten Kathedrale wurde ein moderner Neubau errichtet. Die beiden Kolleginnen schreiten durch die Ruine. Rußgeschwärzte Mauern zeugen noch vom Flammeninferno, das die deutschen Brandbomben entfacht haben. Durch glaslose Fenster kann man in den Himmel schauen, vom Freien ins Freie.

Und dann stehen die beiden Frauen vor einer Jesus-Statue. Unverletzt hat die Skulptur den Angriff der deutschen Wehrmachtsbomber überlebt. Die Jesus-Statue erhebt sich stehend hoch über ihnen. Fasziniert betrachten beide diese Figur. Eva fotografiert den Jesus, schräg unter der Statue stehend, diesen Mann mit Heiligenschein und Mantel. Für sie ist das ein historisches Kunstwerk, eine Skulptur, wie viele andere auch. Eva betrachtet das Werk aus einer sachlichen Distanz heraus. Ihre Kollegin Anja dagegen stellt sich frontal unter die Figur und fotografiert diesen Jesus Auge in Auge. Sie betrachtet den Mann, der ihr die Hände entgegenstreckt mit anderen Augen. Sein ernster Blick schaut direkt in ihr Herz. Ist das ein Kunstwerk? Nein. Für Anja ist da eine Beziehung. Von einem, der oben steht und herab schaut auf sie, die unten steht. Sie fühlt sich von dieser Figur gesehen. Sie weiß sich erkannt, als Person.

Seid so unter euch gesinnt, wie es der Gemeinschaft in Christus Jesus entspricht: Er, der in göttlicher Gestalt war, hielt es nicht für einen Raub, Gott gleich zu sein, sondern entäußerte sich selbst und nahm Knechtsgestalt an, ward den Menschen gleich und der Erscheinung nach als Mensch erkannt. Er erniedrigte sich selbst und ward gehorsam bis zum Tode, ja zum Tode am Kreuz. Darum hat ihn auch Gott erhöht und hat ihm den Namen gegeben, der über alle Namen ist, dass in dem Namen Jesu sich beugen sollen aller derer Knie, die im Himmel und auf Erden und unter der Erde sind, und alle Zungen bekennen sollen, dass Jesus Christus der Herr ist, zur Ehre Gottes, des Vaters. (Phil 2,5-11)

Ihr Lieben, zuerst möchte ich diesen Text mit euch mit einem gewissen Abstand betrachten. Wie ein Kunstwerk, das man aus sicherer Distanz beschreiben kann. Denn selbst, wenn man diesen Text nicht mit dem Herzen liest, ist er interessant. Paulus hat ihn geschrieben, als er im Gefängnis saß.

Paulus sitzt in Römischer Haft. Es sind wohl die letzten Monate seines Lebens. Der Apostel, der früher selber Christen verfolgt hat, ist aufgrund seines Glaubens verhaftet worden. Paulus schreibt in strenger Unterordnung unter den Kyrios, unter seinen Herrn Jesus Christus. Er unterstreicht: „Diesem Herrn kann und will ich mich unterordnen, weil er sich selbst unterge-ordnet hat. Ihm gegenüber bin ich demütig, weil er selbst demütig war und ist. Christus hat auf Macht und Status verzichtet, und deshalb will ich selbst auf Macht und Status verzichten.“ Paulus unterstreicht: Jesus hätte an seinen Privilegien als Gottgleicher festhalten können. Stattdessen verzichtet Jesus auf jeden Vorteil und macht sich selbst die Hände schmutzig.

Eine wirkliche Distanz empfinde ich, Annette Müller, zu der Forderung des Gehorsams. Wie sehr wurde dieser Begriff in den letzten 2000 Jahren missbraucht! Welcher Schindluder wurde damit getrieben, in Zeiten von Hexenverfolgung oder den Kreuzzügen. Wie oft wurden Herrschafts-verhältnisse zementiert mit einer angeblich gottgewollten Forderung nach Unterordnung und Gehorsam. Nein, dieses Wort kann ich nur mit wissenschaftlicher Distanz betrachten. Blinden Gehorsam lehne ich ab. Egal, wer ihn fordert und unter welchen Umständen: Jede Person ist eigenverantwortlich! Sie kann durch niemanden vertreten werden in der selbst verantworteten Führung ihres Lebens! Eine andere Haltung ist in Deutschland nach dem Nationalsozialismus unmöglich, wie ich finde.

Ja, und jetzt möchte ich dem Text Aug in Auge gegenübertreten. Ich möchte dem Christus begegnen, wie er hier mit strengen Zügen gezeichnet wird. Er erniedrigte sich selbst. Christus hat sein Kreuz selbst zur Hinrichtungsstätte geschleppt. Katholische Geschwister gehen auf ihren Kreuzwegen neben diesem Christus her. Sie erleben es fast körperlich mit, wie er zusammen-bricht auf der Via Dolorosa, der Straße der Schmerzen. „Deine Wunden gehören zu deinem und zu meinem Leben. Meine Wunden gehören zu meinem und zu deinem Leben,“ möchte ich diesem tapferen Jesus ins Ohr flüstern. Und: „Ich bin hier. Bei dir, wenn du leidest!“

In der Passionszeit gehen wir den Leidensweg Christi mit. Wir erinnern uns an seinen Empfang in Jerusalem. Palmwedel haben die Menschen geschwenkt und ihn mit Hosianna-Rufen empfangen wie einen König. Seine Bescheidenheit hat er demonstriert durch sein Reittier. Er kommt nicht hoch zu Ross, sondern wählt stattdessen ein genügsames, sanftmütiges Tier, um sich fortzu-bewegen, einen Esel. Er wird empfangen wie ein König, nur um sich kurz darauf hinzuknien und seinen Leuten die Füße zu waschen. Peinlich berührt, sträuben sich diese und rufen: „Du bist doch der Herr! Du bist doch unser Kyrios, der Christus!“ Und er wird ihre Einwände beiseite wischen und sagen: „Ich diene euch. Lasst mich heute zu euch aufschauen!“

In der Passionszeit gehen wir den Leidensweg Christi mit im Vertrauen, dass er unsere Leidenswege mitgeht. Wenn wir uns durchs Leben schleppen, wenn wir drohen zusammen zu krachen unter der Last unseres Kreuzes, dann flüstert er: „Ich bin hier. Bei dir. Ich bleib an deiner Seite, wenn du leidest!“

Wir betrachten Jesus nicht als einen, der auf dem Sockel oben steht. Sondern als einen, der seine Würde bewahrt hat in den schlimmsten Anfechtungen. Er hat sich freiwillig in sein Schicksal ergeben. Der zum Himmel Erhobene ist vorher durch die Hölle gegangen. Gott will nicht das Leiden, aber unsere Treue, die wohl auch ins Leiden führen kann. 

Oben und unten, erhöhen und erniedrigen, das Wechseln der eigenen Position gehört zu Gottes Plänen. Das kann im Einzelfall ziemlich unangenehm sein.  Das Wesentliche an diesem Christus ist die Beziehung. Sicher, manchmal ist es gut über die objektive Bedeutung von Jesus als Reli-gionsstifter zu sprechen. Dass er gewaltlos war. Dass er viel Gutes bewirkt hat, indem er sich Menschen zuwandte und für Milliarden von Menschen zum Vorbild wurde.

Das Wesentliche an diesem Jesus ist aber die Beziehung. Sich anrühren zu lassen durch seine Worte. Sich ins Herz schauen zu lassen. Sich trösten lassen von ihm. Nun könnte man fragen: Aber was ist, wenn ich das nicht hinbekomme, mit der persönlichen Beziehung? Auch da hilft ein Wort von ihm weiter: „Nicht ihr habt mich ausgewählt, ich habe euch ausgewählt, damit ihr zu mir gehört und ich zu euch.“

Ich stelle mich heute unter den Christus mit dem ernsten Blick. Er ist viel mehr als ein Denkmal! Er ist der Lebendige. Als Heilender. Als Leidender. Und als Auferstandener. Ich schaue zu ihm auf, weil er mir viel voraus hat. Er ist mir voraus. Mit Heiligenschein und Mantel steht er da und sieht mich an. Sein aufmerksamer Blick schaut auf den Grund meiner Seele. Er streckt mir seine Hände entgegen und sagt: „Komm her, ich führ´dich! Lass mich mal machen!“

Und der Friede Gottes, der höher ist als unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Jesus Christus. Amen.

Pfarrerin Annette Müller

Weiter
Weiter

Trost in Jesus Christus